Erfolge im Kampf gegen die islamistischen Extremisten
In der oberägyptischen Stadt al-Minya weht ein neuer Wind. Ausländer dürfen wieder ohne Polizeischutz die Stadt besuchen und besichtigen - ein Anzeichen dafür, dass der extremistische Islamismus eingedämmt ist. Die hohe Arbeitslosigkeit bleibt jedoch bestehen. Sie könnte neue Probleme verursachen.
al-Minya, Ende Dezember
Es ist Donnerstagabend in al-Minya, Beginn des ägyptischen Wochenendes. In der 250 Kilometer südlich von Kairo gelegenen Stadt herrscht Hochstimmung. Auf der Hussaini-Strasse im Zentrum gehen junge Frauen Arm in Arm spazieren. Vom Strassenrand aus schauen Männer, lässig an Autos gelehnt, dem Treiben zu. Alle sind nach der neusten Mode gekleidet; die Männer bändigen ihr krauses Haar mit Gel. Viele Frauen sind unverschleiert, die übrigen tragen ein raffiniert geschlungenes Kopftuch. Vor dem erst kürzlich eröffneten Kino haben sich Familien eingefunden, es soll eine neue ägyptische Komödie gezeigt werden. Aus einigen der hübsch dekorierten Geschäfte dringt der Singsang eines Koran-Rezitators. Die meisten gehen jedoch lieber mit moderner arabischer Discomusik auf Kundenfang. Diese wird übertönt von dem fröhlichen Lachen der Kinder, dem ständigen Gehupe und dem Schreien der Süsskartoffel-Verkäufer.
Moscheen und Uni wieder in Staatshand
Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass Minya in den neunziger Jahren eine beklemmende, fast tote Stadt war, in der die Bewohner so wenig wie möglich auf die Strasse gingen. «Minya war damals mehr als jeder andere Ort in Ägypten den Islamisten ausgeliefert», erläutert der Minyaner Kunstmaler Mahmud Khalil. Während Anhänger der Jamaa al-islamiya, der damals grössten islamistischen Terrorgruppe, in Kairo und Assiut Attentate auf Kopten, Touristen und Polizisten verübten, terrorisierten sie in Minya auf der Strasse die Passanten, bei sich zu Hause die Nachbarn und an der Universität die Mitstudenten. «Meine Frau und ich wagten damals nicht, am Nil spazieren zu gehen oder uns gar auf eine Parkbank zu setzen», erinnert sich Khalil. Überall waren Islamisten, erkennbar an ihrer kurzen Jalabiya und am Turban, auf der Suche nach «unzüchtigen» Mitbürgern. Sie waren so mächtig, dass sie Paare ungestraft fragen konnten, ob sie verheiratet seien; konnten diese sich nicht ausweisen, wurden sie beschimpft und manchmal verprügelt. Unverschleierte Mädchen wurden angespuckt; junge Männer, welche am Freitag zur Zeit des Mittagsgebets spazieren gingen, gewaltsam in die Moscheen gezerrt. Dort hielten Imame der Jamaa die Predigt. Khalil, der häufig in der Moschee Jugendliche um sich gesammelt hatte, um ihnen Englisch-Nachhilfeunterricht zu geben, wurde kurzerhand hinausgeworfen.
Warum schritten die Sicherheitskräfte nicht ein? Die Polizei habe die Jamaa al-islamiya jahrelang nicht ernst genommen, meint Khalil. Die von der 1979 in Minya gegründeten Islamistenorganisation ausgehenden Gefahren seien von den Behörden zu spät erkannt worden. Zu Beginn der neunziger Jahre schwappte eine Terrorwelle über Kairo und Assiut; weit über 1000 Personen starben innerhalb kurzer Zeit. Nach der Verabschiedung eines scharfen Anti-Terror-Gesetzes im Jahre 1994 wurden Tausende von Terroristen festgenommen. Vielen weiteren gelang es jedoch, sich in den nahe gelegenen Bergen bei Minya und Assiut, in den dichten Zuckerrohrfeldern und abgeschiedenen Dörfern zu verstecken oder aber sich ins Ausland abzusetzen. Erst nachdem 1997 in Luxor 58 Touristen regelrecht abgeschlachtet worden waren, wurde der Kampf gegen den extremistischen Islamismus intensiviert und modernisiert. Während vorher Verdächtige vor allem in Städten festgenommen worden waren, wurden nun auch die Felsabhänge des Niltals mit Hilfe von Helikoptern abgesucht. Die Islamisten, die seit den achtziger Jahren regelmässig in die Gremien von Universitäten gewählt worden waren, durften nicht mehr kandidieren.
Die Moscheen wurden dem Ministerium für religiöse Belange unterstellt. «Heute predigen hier nur Imame, die an der Azhar-Universität in Kairo ausgebildet worden sind», erklärt ein junger Scheich in Minya stolz. Auf der Uferpromenade am Nil werfen Ficus-Bäume Schatten auf Sitzbänke, einen Spielplatz, Grünflächen und frisch gepflasterte Wege. Laut dem Scheich hat die Instandsetzung der Corniche die Stadtbewohner dazu ermuntert, sich wieder vermehrt im Freien aufzuhalten. Auch die Innenstadt Minyas mit ihren zahlreichen Bauten aus der Kolonialzeit, den kleinen Plätzen und Alleen wurde erneuert. Der Bahnhofsplatz, den bis vor zwei Jahren Einheimische und Besucher gemieden hatten, ist zu einem Prunkstück geworden. «Hier gab es nur zwei schummrige Spelunken», sagt der Kellner eines hübschen neuen Cafés. Heute würden sich Investoren darum reissen, in den wenigen noch freien Räumen im Erdgeschoss der umliegenden Häuser ein Restaurant oder ein Geschäft einzurichten. Das schönste Gebäude am Platz sei noch immer das Savoy-Hotel im italienischen Stil, meint der Kellner. Der Käufer des heruntergekommenen Gebäudes hatte es abreissen wollen, doch der Denkmalschutz machte ihm einen Strich durch die Rechnung, und er musste es renovieren.
Neu-Minya ohne Bewohner
«Endlich kommen auch die Touristen wieder», frohlockt Wafa Hindi, die Besitzerin eines Hotels an der Corniche. Minya hatte sich erst Anfang der neunziger Jahre auf der Karte der grossen Reiseunternehmer placieren können; nach dem ersten Attentat auf Touristen 1992 wurde es wieder gestrichen. Für Ausländer war die Reise nach Oberägypten seither zumeist untersagt; wurde sie ausnahmsweise erlaubt, so begleiteten mehrere Polizeiwagen die Fremden. Auch heute noch gibt es zahlreiche Strassensperren auf der sogenannten Landwirtschaftsstrasse, welche das am Westufer gelegene Minya mit Kairo verbindet. Die Polizisten kontrollieren vor allem, ob die Fahrer einen Führerschein besitzen; Ausländer werden meistens durchgewinkt. Allerdings, schränkt Wafa Hindi ein, handle es sich bei den neuen Touristen fast ausschliesslich um Russen und Polen; Westeuropäer blieben Minya zu Unrecht weiterhin fern. So bleibe das Hauptproblem, die hohe Arbeitslosigkeit, weiterhin bestehen.
Die Regierung hat vor zwei Jahren einen Anlauf genommen, dem Mangel an Arbeitsplätzen und Wohnmöglichkeiten mit dem Bau einer östlich des Nils gelegenen Satellitenstadt Neu-Minya abzuhelfen. Doch sind die Wohnungen in den kastenförmigen Wohnblöcken nur vereinzelt bewohnt. «Hier gibt es keine Läden, und der Weg nach Minya ist weit», jammert eine frierende Frau an der Bushaltestelle. Theoretisch ist hier Platz für rund 1000 Fabriken und Werkstätten, in denen 60 000 Menschen arbeiten könnten. Doch trotz Steuererleichterungen haben sich bisher nur wenige Investoren nach Neu-Minya gewagt. Das einzige Viertel in der Industriezone, das etwas belebter wirkt, ist dasjenige der Nahrungsmittelfirmen. Hier werden in der Region geerntete Tomaten, Mangos und Bohnen in Büchsen abgefüllt.
Freiwillig komme niemand nach Neu-Minya, meint der Kunstmaler Khalil. Seiner Ansicht nach liegt das vor allem an der weiten Anfahrt aus Kairo. Zwar befindet sich Neu-Minya an einer neuen Wüstenautobahn, welche nach einem ägyptischen Zeitungsartikel die Fahrtzeit nach Kairo auf zweieinhalb Stunden reduziert hat. Die Wirklichkeit ist weniger rosig. 70 Kilometer vor Kairo mündet die Autobahn in eine Überlandstrasse, welche sich anschliessend mitten durch zwei Kleinstädte und sechs Dörfer windet. In diesen wimmelt es von Marktfrauen, Lastwagen, Eselskarren, Pferdekutschen und Schülern; zu ihrem Schutz sind alle paar Meter hohe Schwellen verlegt. In zweieinhalb Stunden sind die 180 Kilometer auf der Autobahn tatsächlich zu schaffen; die weiteren zweieinhalb Stunden Fahrtzeit durch das Einzugsgebiet Kairos wurden in der ägyptischen Zeitung geflissentlich unterschlagen.
(Quelle http://www.nzz.ch/2004/01/09/al/page-article9BPZ3.html. )