Die Hüter des Nichts (von Peter Korneffel)

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Osiris
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Die Hüter des Nichts (von Peter Korneffel)

Beitragvon Osiris » Do 06 Mai, 2004 17:34

Die Hüter des Nichts

von Peter Korneffel


Die Miskitos, Indianer Nicaraguas, sind die Ärmsten in einem armen Land. Die Männer verschleißen sich beim Tauchen nach Langusten, die Frauen verkaufen den Fang und hüten das Dorf, in dem es nichts zu holen gibt. Die Ankunft kolumbianischer Drogenkuriere hebt ihre Welt aus den Angeln.

Fluch der Tränen. Der 23-jährige Dexter Colly wird die Qualen seines Vaters nie vergessen. "Die Schmerzen in seinem Kopf, in den Gelenken. Wenn er auf See war, nahm er Medikamente. Die Taucher spritzen sich gegenseitig, dann geht es. Aber wenn sie nach Hause kommen, bricht es raus. Oft kommen sie weinend von Bord."

Dexters Vater starb am 19. November 2001. 18 lange Jahre tauchte Evaristo "Chester" Colly vor der nicaraguanischen Karibikküste nach Spiny Lobsters, Langusten, für die Gourmetrestaurants in den USA. Dann riss ihm in 40 Meter Tiefe die Lunge. Seiner Frau Rosalina und den acht Kindern hinterließ er die Schmerzen.

"Er war einer der besten Taucher von Sandy Bay", schwört Rosalina. Seit seinem Tod muss Rosalina die Familie von ihrem kleinen Laden finanzieren, mit dem Verkauf von Instantsuppen, Reis und bolis - süßen Limonaden in kleinen Plastikbeuteln, wie die Kinder von Li Daukra sie lieben, ganz gleich zu welcher Tageszeit.

Li Daukra bedeutet "Die vom Wasser Umschlossene" und ist eine von zehn Gemeinden der Miskito-Indianer in Sandy Bay, nur wenige Bootsstunden von der Grenze nach Honduras entfernt. Eine schlangenförmige Zufahrt durch die Mangroven verbindet die 6000 Miskitos von Sandy Bay mit dem Meer, mit Li Tijo, dem "tiefen Wasser". Eine Lebensader, denn "wer nicht im Meer arbeitet, hat nichts zu essen", sagt Rosalina Colly.

Dieses Nichts von Li Daukra spürt man schon am Morgen. Hahnenschrei begrüßt das Grauen, kreischende María mulatas unterstützen den Vogelsang hoch von den Palmen und wecken schlafende Hunde. Kühe und Pferde laufen frei über die Wiesen zwischen den Hütten, recken sich nach herabhängenden Spitzen der Palmwedel. Nur Schweine sind verboten, seit die Adventistische Kirche zeitweise das Sagen hatte. Schweine tragen die Sünde.

Die Menschen in den sechs Dutzend Häusern schieben allmählich die Mückennetze beiseite. Dann greifen sie nach einem Krug Wasser und gehen hinaus auf die Veranda. Eine alte Frau setzt sich auf die Stufen und kämmt sich mit geschlossenen Augen und zartem Lächeln das graue Haar. Ein Fischer trägt ein Benzinfass auf seinen Schultern zur Lagune, wo sein Boot liegt. Bald öffnet die tienda, und Kinder laufen mit einer Schale los, für ein Pfund Bohnen, zwei Eier und natürlich einen boli. Frauen holen Wasser aus dem Brunnen, während ein paar Männer unter einem gewaltigen Mangobaum palavern. Eine Besprechung des Nichts.

Lobster und Taucher

"Der Friedhof ist auf der anderen Seite der Lagune", erzählt Roddnie Bodden und schiebt seine braune Baseballmütze der Sandinisten-Partei hoch. "Mit den Toten gab es viel Ärger, denn hier dürfen wir sie nicht mehr begraben. Wegen der Brunnen." Die Gemeinden von Sandy Bay liegen nur wenige Zentimeter über dem Meeresspiegel. Und in der Regenzeit glaubt man leicht, sie liegen darunter. "

Der 78-jährige Roddnie fährt heute nur noch gelegentlich zum Fischen hinaus. "Ich habe mit 25 angefangen zu tauchen. Aber ich habe mir nie einen Tank auf den Rücken geschnallt." Roddnie ist stolz darauf und blickt auf seine breiten, ledrigen Füße. "Ich fing die meisten Langusten in Tiefen von zwölf Metern, manchmal in 20 Metern. Und ich konnte bis zu 15 Minuten unten bleiben."

Die Miskito-Indianer zählen zu den besten Freitauchern der Welt. "Du tauchst auf, machst eine kurze Pause und gehst wieder runter." Roddnie sucht seine Machete. Mit besorgtem Blick schaut er auf die Veranda gegenüber. Dort lässt sich sein Schwiegersohn José Elias müde auf einen Stuhl sacken. Der alte Roddnie ist eigentlich keiner, der sich die Sorgen anderer Leute macht. Aber auch seine Söhne kommen immer wieder krank vom Tauchen zurück. Fast alle Familien von Sandy Bay stellen Langustentaucher. Sie fangen mit Reusen oder tauchen frei, aber die meisten der 3500 Miskito-Taucher vor der nicaraguanischen Atlantikküste gehen mit Aluminiumtanks aus den frühen achtziger Jahren hinunter.

Mit erschütternden Folgen: Fast alle Miskito-Taucher, so Untersuchungen der Weltbank und der Hilfsorganisation Subocean Safety, leiden unter chronischen Krankheiten an Lunge und Gelenken. Bereits 400 Männer blieben halb oder vollständig gelähmt, und weit mehr als 100 Taucher ließen in den vergangenen Jahren ihr Leben. In der Fangsaison kommen monatlich ein bis drei Tote hinzu.

Gefahren und Geister

Aber warum riskieren die besten Taucher der Welt dafür ihr Leben? Warum setzen Tausende unkontrolliert diesen scherenlosen Panzerkrebsen nach, egal in welchen Tiefen die begehrten Krustentiere auch sein mögen? Sind es allein die Dollar-Signale, welche die Langusten mit ihren Antennen senden? Ist es das weiße Fleisch in ihren Schwänzen, für das in New Yorker Restaurants ein kleines Vermögen bezahlt wird?

Es ist das, und es ist mehr. Die Miskito-Indianer von Sandy Bay und den umliegenden Küstengemeinden sind Menschen in einer mystischen Hingabe zum Wasser; sie leben vom Fang der Fische, der Langusten und Garnelen, und sie hatten bis zu deren Ausrottung auch Seekühe gejagt. Ihre Lagunen verehren sie als "kosmische Schönheit", "Atem der Götter", "unablässiger Quell der Offenbarung", heißt es in einem Gedicht aus dem benachbarten Pahra.

Sie besingen den Wind für die Segel, für den sie 25 verschiedene Namen haben. Und ihr Boot ist ihnen ein "Pferd aus Holz, schwimmend und leicht, ein Baum, der zum Fisch wurde, um zu reisen". Die Männer unter den Segeln reiten darauf hinaus "wie uralte Reisende auf einem im Sterben liegenden Planeten". Das Sterben nimmt einen wichtigen Platz im Leben der Miskitos ein.

Das Meer ist mythologisch der finale Bestimmungsort der Toten, erläutert der Anthropologe Mario Rizo. Denn der Tod ist nichts als eine "Reise ins Meer", eine Rückkehr in das Leben spendende Wasser der Mutter, in dem jeder von ihnen einst erschaffen wurde. Im Meer treten die Miskitos nach ihrem Ableben in das andere Sein zurück, in den Schoß "ihrer anmutigen Mutter Yapti Misrika. Und wer im Meer stirbt, wird von Liwa Mairin auf dieser letzten Reise begleitet. Liwa Mairin ist ein nixenähnlicher Wassergeist, eine "traumhaft schöne Meerjungfrau mit langem Haar und dem Unterleib eines Fisches".

Doch sie ist eine tückische Begleiterin. Anfangs will sie dich erobern, erzählen die Taucher. Sie schenkt dir alles, was du von ihr willst. Wenn ein Miskito-Taucher mit übergroßen Fängen auftaucht, spricht er kein Wort, doch alle denken, er hat Liwa Mairin gesehen. Diese Schöne ist ein eifersüchtiger Geist. "Wenn du ihr einmal in die Augen geschaut hast, darfst du keine andere mehr mit diesen Augen ansehen", warnt Roddnie Bodden. "Denn Liwa Mairin wird dich dafür strafen: Erst zerdrückt sie dir die Beine, dann entmannt sie dich."

Blasenerkrankungen und Lähmungen des Unterleibs werden von vielen Tauchern noch immer als eine Strafe der Nixe angesehen. Roddnie hat Liwa niemals in die Augen gesehen, "aber ich glaube, es ist so. Wenn du mit ihr gesprochen hast, musst du ihr die Treue schwören, sonst bringt sie dich um. Sie zieht deine Seele mit nach unten". Bei diesen Worten blickt der Alte wieder über die Lagune. Auf das Ufer, wo die Kirche zumindest die Körper der Taucher hinterlegt.

Schwert und Bibel

Die Miskitos haben große Teile ihrer Geisterwelt längst den Weltanschauungen der Siedler und Missionare geopfert. Doch gerade Liwa Mairin erlebt seit einigen Jahren eine Wiedergeburt im Weltbild der Indianer - seit die Zahl der ihnen mysteriös erscheinenden Todesfälle der Langustentaucher so unheimlich wird.

In den Gemeinden am Cabo Gracias a Dios und später in Sandy Bay hatten sich die Miskitos seit dem 17. Jahrhundert mit den afrikanischen Sklaven vermengt, die geflohen oder ausgeliefert an ihren Stränden landeten. Seither sind sie, ethnologisch gesehen, größtenteils Mischlinge, Zambo-Miskitos. Zudem vermischten sie sich mit englischen Piraten, Kariben von Jamaica und den Cayman Islands. Und erstaunlich spät auch mit den Spaniern.
So kommen die Indianer nicht nur zu dunkler Haut und krausem Haar, sondern auch zu einer kuriosen Mischung von Sprach- und Gebietseinflüssen. Ihre miskitischen Gemeinden von Rahuwatla, Tawasakia und Li Daukra liegen heute an der englisch getauften Sandy Bay, hinter den Mangroven der von den Spaniern "entdeckten" Costa La Mosquitia. Seit 99 Jahren kämpfen sie bereits um Autonomie gegenüber der Zentralregierung von Nicaragua. So nennen immer mehr Miskitos die Hauptstadt ihrer Region nun auch wieder Bilwi statt Puerto Cabezas.

Die miskitischen Segler und Fischer zählten die Tage auf See einst mit Knoten an einer Kordel, bevor englische Korsaren ihnen die Woche brachten. Diese hat auf Miskitisch heute sieben britische Söhne namens mandi, tusdi, wensdi und so weiter. Den sundi erklärte ihnen die Kirche später als Tag der Ruhe. Und er folge stets dem heiligen satadi, an dem der Pastor unter lautem Gebimmel zum hochspanischen culto ruft. Und das ist mehr als das Geläut zum christlichen Betgang.

Im Mai 1847 traf der erste christliche Missionar, der Magdeburger Padre Heinrich Gottlieb Pfeiffer von der Herrnhuter Brüdergemeinde, in Nicaragua ein. Die Kosmovision der Miskitos taten die Herrnhuter, die Teil der Mährischen Kirche sind, schnell als "heidnisches Unwesen" ab. "Wie bei jeder Missionierung", schrieb der Chronist Götz Freiherr von Houwald in "Deutsches Leben in Nicaragua", "bleibt es die unverzeihliche Schuld der Missionare der Brüdergemeinde, Sitten und Gebräuche der Eingeborenen achtlos zerstört zu haben."

Doch obwohl der Iglesia Morava heute rund zwei Drittel aller Miskitos in Sandy Bay angehören, wird der indianischen Kultur an den Lehrstühlen der Anthropologen noch immer bescheinigt, sie sei ein "dynamischer Synkretismus indianischer, europäischer und schwarzer Werte und Traditionen".

In die weiten Breschen des Tages treten auswärtige Prediger, die unter hypnotisierendem Dauerlächeln für die Bibel werben. Durch die indianischen Gemeinden geistern mobile Apotheker mit revolutionären Wunderpillen und fliegende Händler mit hoch glänzenden Handtaschen aus schwarzem Kunstleder.

Diese hausierenden Vagabunden gehören bereits zum Alltag in Li Daukra. Denn seit einiger Zeit ist Geld im Dorf. Zwischen den Indianergemeinden der Sandy Bay und ihren Fischgründen in den Keys verläuft einer der wichtigsten Transportkorridore für das kolumbianische Kokain. Auf dem Weg in die nordamerikanischen Nasen passieren Tonnen von bestem Stoff die Gestade der Moskito-Küste.

Wenn die U.S. Coast Guard nachts ein verdächtiges Schnellboot aufspürt, werfen die narcos den Schnee einfach ins Meer - zu Kiloklumpen portioniert, trocken gewickelt, mit einer Luftblase unter der Folie und sauber beschriftet. Die Miskitos erfahren über Funk von dem wundersamen Treibgut und mobilisieren ihre Boote zur Ernte noch vor dem Morgengrauen. Zeitgleich fahren die Aufkäufer aus Honduras in die Gemeinden und empfangen die Fischer des Schnees, der in den USA je Kilogramm 50000 Dollar bringen wird.

"Warum sollten sie es nicht machen?", fragt Roddnie. "Die Polizei von Nicaragua ist doch völlig korrupt. Wenn die Fischer es ihnen übergeben, verkauft die Polizei es selbst nach Honduras." Also wird diese Dienstleistung gleich hier abgewickelt. Wer einmal ein paar Päckchen aus dem Meer gefischt hat, steigt an der Moskito-Küste wirtschaftlich wie ein Phönix aus der Asche. Die "strolling boys" von Sandy Bay träumen immer weniger von einem Segelboot und großen Langusten. Sie träumen vom paquete, dem Päckchen, welches das Leben wendet.

Jeder, der hoch kommt, will es allen anderen zeigen. Der soziale Aufstieg einer miskitischen Familie erweist sich zuerst an den Zähnen und am Schmuck. "Aber vor allem an den Häusern", erklärt Roddnie. In Sandy Bay gibt es grob vier Kategorien von Häusern: eine kleine Holzhütte wie die von Roddnie, ein geräumiges Holzhaus mit festem Fundament wie das von Rosalina, ein gestrichenes Haus aus Beton. Und schließlich eine möglichst opulent bekachelte Maison. Je mehr Kacheln, desto reicher. Die Kachel - als Bodenfliese, als Ornament, gar als palastgleicher Wandbelag - ist der Inbegriff des modernen Glücks von Sandy Bay.

An einem gelb-weißen Strandhaus mit gekachelter Treppe liegt ein Mann mit biblischem Namen in der Hängematte: Moises. Er ist einer, der es geschafft hat. Breitbeinig den Platz für seinen Wanst sichernd, genießt er das Vakuum der Mittagszeit. In seinem rechten Ohrläppchen glänzt ein Ring aus Gold, seine Schneidezähne sind eine wahre Mine.

Doch kein noch so weißes Pulver kann die soziale Realität von Sandy Bay verschleiern: Die staatliche Statistik weist für die Provinz 85 Prozent Armut aus. In Sandy Bay sind es annähernd 100. Und dieser Extremwert bedeutet, dass es kein fließendes Wasser gibt, keinen Arzt, für die meisten keinen Strom und dass das Bildungsniveau der Miskitos ebenso erschreckt wie die Sanitäreinrichtungen hinter ihren Häusern. Bei Moises riecht es nicht anders.

Licht und Regen

Bo-bo-bo-bo-bopp. Der motorista stellt den Yamaha-Außenborder ab. Aus dem Boot klettert auch Rosalina Colly. Sie kommt von einer Reise aus Puerto Cabezas zurück. Dexter und seine Brüder laufen ans Ufer, um ihr beim Schleppen der Taschen zu helfen. "Uwa li, uwa rip", stöhnt sie, vollends vom Regen und den hohen Wellen durchnässt. Drei Stunden knallte das Boot gegen den Nordwind.

Später besingen Frösche, Grillen und Pferde die Nacht, gelegentlich mauzt ein streunender Kater. Und aus irgendeiner Hütte leiert noch leidvoll ranchera, die Musik, die den Rum begleitet. Wenn dann der Passatwind des Nachts die Luke zu den Sternen schließt und den Palmenwald mit schwarzer Luft umhüllt, dann sagen sie "Li au la" - es wird regnen.

Und sie meinen jene Fluten, die ohne Donner auf die Dächer fallen, die aus dem Trommelwirbel der Tropfen auf dem Wellblech ein ekstatisches Rauschen formen, das sich bald in grauen Wänden aus Kaskaden von den Rinnen stürzt. "Uwa Li." Es regnet, überwältigend, laut und betäubend. Alles ist Wasser. Ganz Li Daukra taucht darin, versinkt im süßen Meer.

Den ungekürzten Text finden Sie im "Mare"-Heft "Öl", April/Mai 2004