Ägypten positioniert sich konkret im Außenverhältnis

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Nil-Eule
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Ägypten positioniert sich konkret im Außenverhältnis

Beitragvon Nil-Eule » Do 30 Aug, 2012 13:32

Wenn selbst der SPIEGEL Wirkung zeigt und in die Kiste mit den eindrucksvollen Begriffen greift, muss wohl wirklich was passiert sein. :shock:

Man erinnert sich gut an den kurzen Moment schwerer, weltweiter Verunsicherung, als Mursi bereits kurz vor seiner Wahl die Aufnahme von Gesprächen mit dem Iran ankündigte. Viele werteten dies als eine klare und unmissverständliche Hinwendung zum "Modell Gottesstaat" und befürchtete ein rapides und unumkehrbares Abrutschen Ägyptens in eine neue, womöglich noch düstere Zeit als je gehabt.

Selbst die ägyptische (Online-) Tagespresse äußert sich heute zum Treffen der "NAM" ("Non-Aligned-Movement", eine Vereinigung blockfreier, arabischer Staaten) in Teheran verblüffend sparsam. Das Treffen ist durchaus bedeutsam, immerhin gehören ihm 120 Staaten an.
Dort ist nur zu lesen, dass Mursi in Teheran eine unerwartete Rede mit äußerst klaren und unmissverständlichen Inhalten gehalten habe.

Der SPIEGEL empfand die Reaktion der Mitglieder als höchst dramatisch; in der Tat sprach Mursi vor dieser Öffentlichkeit eine rhetorische Ohrfeige für Syrien und allerdings auch für Teheran aus.

Die iranischen und syrischen Vertreter hörten Mursi "mit versteinerten Gesichtern" (lt. SPIEGEL) zu - sie waren offensichtlich von der harten Kritik des ägyptischen Präsidenten an Syriens wie an Irans Addresse regelrecht geschockt.

Mursi ließ überhaupt keinen Zweifel an der Legitimität des syrischen Freiheitskampfes und bezeichnete es als Pflicht, diesen Kampf nach Kräften zu unterstützen. Damit hat Mursi das Verhältnis zwischen Ägypten und Iran erneut und schwer belastet, mithin Iran auch von arabischer Seite aus noch tiefer in die Isolation geschickt.

Wir haben es, das muss die einzige Schlussfolgerung aus der Beobachtung dieses Treffens und Mursis Rede sein, also tatsächlich mit einem völlig neuen, ägyptischen Staat zu tun. Ägypten hat außenpolitisch das erste Mal "so richtig" den Rücken durchgedrückt und in seiner neuen, erstaunlich schnell professionell gehandhabten Rolle als demokratischer Staat Platz genommen - allen Befürchtungen zum Trotz, die sich gegen Mursi als Vertreter einer islam-politischen Partei entzündet hatten.

Natürlich wird er von einigen Strömungen in seiner Heimat auch dafür wieder schwer kritisiert werden; aber wie das Besispiel Tawfik Okasha zeigt, taugt längst nicht jede möglichst laut vorgetragene Kritik an der neuen Regierung und ist auch nicht überzeugend.

Ägypten zeigt sich erstmals seit vielen Generationen als eigenständiger und selbstbewusster Staat und nimmt erstmals die Verantwortung wahr, die es als bevölkerungsreichster und (im Islam) sehr einflussreicher Staat im Grunde seit vielen Jahren schon hätte wahrnehmen müssen.

Aller Kritik zum Trotz, die Mursi als praktizierendem und politischen Muslimen so zwanghaft wie reflexhaft mit Verdächtigungen eindeckt, kann nach objektivem Dafürhalten der neuen Regierung in ihrer Arbeit momentan kein (einziger) Vorwurf gemacht werden.
Präsident, Premier und Kabinett werden sich jedoch innerhalb der nächsten Monate schwerpunktmäßig mit innenpolitischen Entscheidungen profilieren müssen - denn Außenpolitik kann kein ägyptischer Bürger essen. Vom Anranzer in Teherean ist noch keine Tonne Müll aus ägyptischen Städten abgefahren, kein versalztes Land renaturiert und kein Arbeitsplatz geschaffen - an diesen Aufgaben kann die neue Regierung noch immer zerbrechen.
Denn da steht sie gegen die Reste des Mubarak'schen Unwesens, und die sind in nicht unwesentlichen Teilen leider noch bedauerlich gesund und rege.
"Wer einmal von den Wassern des Niles getrunken, kann seinen Durst nie wieder woanders stillen." (Mika Waltaari; "Sinuhe der Ägypter")